Es gibt Wanderwege, die gibt es eigentlich nicht. Oder: gibt es nicht mehr. Alte Wege, wie der hier vorgestellte offiziell 75 Kilometer lange Pulkautaler Rundwanderweg 662 im Weinviertel, üben auf neugierige Wanderer wie mich jedoch einen gewissen Reiz aus. Bewandert man diese alten Strecken auch noch zu einer wanderuntypischen Jahreszeit, ist das besondere Erlebnis bereits vorprogrammiert.
Auf der Weitwander-Seite findest du alle kompakten Informationen zu diesem Weitwanderweg.
Gedankenverloren wandere ich über den gefrorenen Waldboden auf den Buchberg oberhalb von Mailberg im Weinviertel. Ein verblichenes Wegkreuz und ein Sendemast zieren die oberste Waldkuppe, der leicht angezuckerte Boden wirkt durchwühlt. Dürfte sich um Spuren eines Wildschweines handeln, denke ich, und drehe mich um. Drei Meter vor mir steht nun besagtes Tier. Ich erschrecke, das Wildschwein erschrickt – doch nur einer von uns Zwei läuft davon (das Wildschwein). So nahe wie dieses Lebewesen kam mir in den drei Tagen am Pulkautaler Rundwanderweg fast niemand.
Zu Fuß im westlichen Weinviertel
Zwei Tage zuvor starte ich in der Marktgemeinde Zellerndorf inmitten des Pulkautals im westlichen Weinviertel. Es ist Ende Jänner 2020. Obwohl Lockdowns erst Zukunftsmusik sind, bewegen sich wenige Menschen auf den Straßen. Nur eifrige Wahlkämpfer buhlen am Bahnhof Zellerndorf um Stimmen für die bevorstehende Gemeinderatswahl in Niederösterreich. Mit einem Honig-Wahlgeschenk im Rucksack kehre ich Zellerndorf vorerst meinen Rücken zu, obwohl mich dieser Ort zwei Mal beherbergen wird.
Die Maulavern-Kellergasse mit Kellermuseum und Original-Drehort für die Fernsehsendung „Julia“ führt mich westwärts leicht ansteigend durch Weingärten, die sich noch in Winterpause befinden. Am reinen Asphaltweg gehend erblicke ich bereits die Stadt Pulkau mit den grundsätzlich prägendsten Gebäuden im Weinviertel: Kirchturm und Lagerhaus-Turm. Doch die beiden Türme betrachte ich vorerst noch aus der Ferne. Ein etwas kleineres Bauwerk erreiche ich bei der Pulkauer Bründlkapelle. Ab hier soll der Weg nun etwas naturnaher werden. Jedenfalls lässt es meine eigene Tourenplanung so vermuten, die auf keinen Fall einfach war.
Pulkautaler wås?
Vor einigen Jahren erzählte mir ein älterer Herr in der Buchhandlung freytag & berndt etwas vom Pulkautaler Rundwanderweg 662. Diesen hätte es mal gegeben, doch findet sich der Weg gar nicht mehr in Kartenwerken wieder. Meine Neugier war geweckt: Ein Weg, den es nicht mehr gibt? Noch dazu in einer Gegend, die ich bereits vor einigen Jahren bewandert hatte? Da muss wohl eine kleine Recherche her.
In einem Buch über Weitwanderwege in Niederösterreich aus dem Jahr 1986 fand ich Informationen: 75 Kilometer, Markierung „Rot-weiß-rot, 662“, Auskunft beim FVV Westliches Weinviertel und eine Streckenführung in Skizzenform. Diese Skizze war zwar nicht detailliert, aber Gold wert, denn sie erlaubte mir, anhand der aktuellen Karten, den Weg in seiner Form ungefähr nachzuzeichnen – jedenfalls in den meisten Fällen. Selbst den in den 80er-Jahren für den Weg verantwortlichen Herrn erreichte ich telefonisch, doch er konnte – oder wollte – mir nicht den genauen Streckenverlauf mitteilen. In den Tourismusverbänden hörte man von diesem Weg überhaupt zum ersten Mal. Auch die wenigen Menschen unterwegs befragte ich zum 662er: „Pulkautaler wås?“.
Ungeahnte Ein- und Ausblicke
Dem Bründlwasser in Pulkau werden heilende Kräfte nachgesagt. Ob es nun das Vorhandensein des Wassers (kein Trinkwasser!) war oder die kurze Pause an der – für meine Begriffe – etwas zu heiligen Kapelle: Den bis hierher verlaufenden Asphaltmarsch haben meine Fußsohlen bereits wieder vergessen. Eine interessante Gesteinsformation und Grenzsteine aus dem Jahr 1651 führen im Anschluss bergan zum stabil geformten Kreuz am Hochkogel und in weiterer Folge zum Wegweiser „Wald-Weinviertel-Weg 663“, der hochoffiziell und gut markiert von Rosenburg nach Retz verläuft. Direkt am Fluss der Pulkau erblicke ich das erste und einzige Schild zum Pulkautaler Rundwanderweg 662 auf meiner Tour. Ich bin zumindest hier am richtigen Weg unterwegs.
Unterhalb der Burgruine Neudegg fällt mir erst das hier steil eingeschnittene Pulkautal auf. Bislang war mir dieser Abschnitt der Pulkau gänzlich unbekannt – und ich bin froh, diesen Weg entlang dem Fluss folgend in die Stadt Pulkau endlich zu kennen. Mäanderförmig und eindrucksvoll zieht das Gewässer seine Schneise durch die hügelige Landschaft an der Grenze vom Waldviertel ins Weinviertel. Vorbei an einer alten Schmiede und Mühle sowie einem Naturdenkmal, der Teufelswand, erreiche ich die kleine Stadt Pulkau. Begleitet von Leberkäs-Geruch aus dem Fleischer am Rathausplatz, zieht es mich hinauf zur Kirche St. Michael mit benachbartem Karner. Danach zerstreut sich meine geplante Wegführung, die mich eigentlich an einem Feld entlang ostwärts führen sollte. Trampelpfad ist keiner zu erkennen, stattdessen sammle ich kiloweise nasse Erde über meine Schuhsohlen auf. Vielleicht war der Weg entlang der heutigen Landesstraße vor 35 Jahren doch der richtige.
Junger Hupfer am Altenberg
Schlammfreie Feldwege führen mich zum weithin sichtbaren Gipfelkreuz am Altenberg auf 296 Metern, der mich irgendwie magisch angezogen hatte. Der Altenberg ist seit jeher als Kraftort bekannt und besteht aus 600 Millionen Jahre altem Granitgestein der auslaufenden Böhmischen Masse. Auf der anderen Seite der Pulkau blicken ich vom Gipfel auf die bereits bekannte Kellergasse Maulavern und unter mir auf Zellerndorf. Nach einem überraschend steinigen Abstieg erreiche ich die abseits des Ortes liegende Pfarrkirche mit dem achteckigen Karner, einem frühgotischen Gebeinhaus. Nach wenigen Gehminuten lande ich am Retzerlandhof, der heute und morgen meine Unterkunft sein wird. Dass im Weinviertel nicht nur guter Wein hergestellt wird, beweist das im Retzerlandhof erhältliche Zebedäus-Bier. Das handgebraute und unfiltrierte Bier aus Zellerndorf hab‘ ich mir nach dem ersten Tag am Pulkautaler Rundwanderweg redlich verdient.
Von Kellergassen und Dampfluckn
Am Tag 2 des Rundwanderweges, von Zellerndorf über Haugsdorf und Seefeld nach Mailberg, fallen mir steinerne Blöcke mit Löchern in den Wiesen rund um die Kellerhäuser am Wegesrand auf. Es sind dies sogenannte Dampflöcher, Belüftungsschächte für die darunter liegenden Keller, die für den Feuchtigkeitsgehalt im Keller ungemein wichtig sind. Diese „Dampfluckn“ erblicke ich am Weg durch Karlsdorf und Pfaffendorf des Öfteren. Entlang der Pulkau wandere ich nach Haugsdorf und begehe die 850 Meter lange Große Kellertrift nordwärts. Im Sommer tummeln sich hier weinselige Menschen, im Winter nur jene, die unbedingt raus müssen. Und ich.
„Wer hier zu Fuß geht, kann sich kein Rad leisten“, erklärt mir ein Weinbauer im Winterschlaf. Und wahrlich: Wanderwegweiser sucht man im östlichen Pulkautal – mit Ausnahme des Ostösterreichischen Grenzlandweges 07 – vergeblich. Wegweiser zu Radtouren finden sich jedoch zuhauf, so auch ein Wegweiser, der zur Staatsgrenze leitet. Auf 50 Meter nähere ich mich der tschechischen Grenze, ehe ich zur stählernen Heidbergwarte aufsteige. Das trübe Weinviertel-Wetter lässt nur wenige Ausblicke zu. Heute: geerntete Felder, verlassene Weingärten, ungenutzte Güterwege.
Marterl und Mailberg-Valley
Ohne ein Wegkreuz oder Marterl kommt kaum ein Güter- oder Feldweg im Weinviertel aus. So auch am Poltweg, benannt nach dem Fernseh-Gendarm Simon Polt, zur „Auf der Ebm“. Eine Panoramatafel ziert diesen Aussichtspunkt beim Freiheitskreuz und Hubertuskapelle am Übergang nach Seefeld zum gleichnamigen und weithin sichtbaren Schloss. Ab hier ist es leider ein eintöniger Marsch entlang der Landesstraße nach Mailberg. Ostwärts gäbe es zwar die Möglichkeit über Feldwege auszuweichen, doch der Großgrundbesitzer vom Schloss Seefeld lässt hier eine Begehung nicht zu.
Eine Tafel mit der Aufschrift „Mailberg Valley“ begrüßt mich, von den 575 Einwohnern der Marktgemeinde aber niemand. Damit kann ich gut leben. Denn so erreiche ich rechtzeitig den Bus nach Hollabrunn, von wo aus ich mit der Bahn wieder in Zellerndorf und am Retzerlandhof lande. Den Tag beschließe ich mit dem bereits bekannten Getränke-Menü.
Links, rechts, links, rechts
Ich muss mich fast sputen, den Zug nach Hollabrunn nicht zu versäumen und so auch wieder den Bus nach Mailberg zu erwischen. Warum ich nicht einfach in Mailberg geblieben bin? Ende Jänner war es nicht besonders einfach, in Mailberg eine Unterkunft für eine Nacht zu erwischen. Für die perfekte Verpflegung und Unterkunft im Retzerlandhof nahm ich die Umwege mit Öffis gerne in Kauf.
Ich steige durch die Mailberger Kellergasse in den Hochlüssen auf, gemeinsam mit dem Europäischen Fernwanderweg E8, dem Ostösterreichischen Grenzlandweg 07 und dem Niederösterreichischen Landesrundwanderweg. Endlich gut markierte Wege!
Es gilt nun den Wildzaun über eine gar nicht so niedrige Holzleiter zu übersteigen. Doch danach sind die Wege frei auf den 417 Meter hohen Buchberg, dem höchsten Punkt des Pulkautaler Rundwanderweges. Hier ein Wildschwein zu sichten, ist im eigens für Wildschweine eingerichteten Gatter keine Seltenheit. Über eine Leiter verlasse ich das Wildschweinreich auch schon wieder. Auf den genannten Weitwanderwegen bewege ich mich noch einige Zeit entlang, nach einem Jagdhaus verlasse ich die markierte Wegstrecke, um mich auf nun unbezeichneten Güter- und Feldwegen fortzubewegen.
An der nächsten Kreuzung rechts, bei der nächsten Möglichkeit links, abermals wieder rechts. So verläuft die weitere Wegstrecke durch die Agrarlandschaft des südlichen Pulkautales im Zick-Zack-Kurs. Der Nebel hat sich tief in die Landschaft gesetzt, andere Menschen treffe ich so gut wie gar nicht. Nur einen Jäger, der seinen jungen Jagdhund erfolglos zu sich pfeift, weil dieser im Nebel des Weinviertels einem zu flinken Hasen nachläuft. Über eine kurzzeitige Abwechslung freue ich mich rund um den benannten Schlossberg mit verlassenem Schlosskeller, „Harri’s Hühnergarten“ und einem Bienenlehrpfad.
Die letzten Meter
Im bekannten Zick-Zack geht’s für mich nun nahezu ohne Höhenmeter an den Ortsrand von Watzelsdorf und in weiterer Folge direkt wieder nach Zellerndorf. Ich habe den Pulkautaler Rundwanderweg 662 nun erfolgreich begangen, zumindest in meiner Variante. Nur eine einzige Spur des alten Weges in Form eines Schildes habe ich entdecken dürfen. Manchen Wegabschnitten kann ich nicht verübeln, dass es sie als Wanderstrecke nicht mehr gibt. Aber vielleicht sollte ich auch zu einer anderen Jahreszeit wiederkommen. Dann, wenn ein Vorankommen in den belebten Kellergassen nur schwierig möglich ist. Dann, wenn aus einem Weitwanderweg ein Weinwanderweg wird.
Dieser Artikel erschien zuerst im weitweg-Magazin 1/2021 der ÖAV Sektion Weitwanderer.
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